6 Millionen – „Mietek“ spricht über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte
Das Bürgerhaus in Driedorf ist mit ca. 170 Menschen fast voll besetzt. Menschen, die gekommen sind, um Miecyslaw Grochowsky zuzuhören, welcher über sein Leben und seine Erlebnisse im Internierungs- und Arbeitslager Potulitz berichtet.
Sabrina Franz und der Demokratie-AG der Westerwaldschule ist es zu verdanken, dass die Klassen der Jahrgänge 9, 10 und weitere Lernende und Interessierte aus der Umgebung diese Möglichkeit im Rahmen des Gedenktages zur Befreiung von Auschwitz, welcher am 27.01. begangen wird, wahrnehmen konnten.
Nach der Begrüßung durch die Demokratie-AG, vertreten durch Hanna Sauerwald und Fabian Rübsamen, Schulleiterin Susanne Kuhlmann und Bürgermeister Carsten Braun ist es Neithard Dahlen, Mitglied des Auschwitz Komitees, der „Mietek“ auf prägnante Weise ankündigt.
Er spricht hierbei nicht nur über Vergangenes, sondern baut vielmehr geschickt eine Brücke zur heutigen Zeit. Spricht unter anderem über Gedenken, Wertehaltung, Hass und die Macht von Worten. So sieht Dahlen Hass und Angst als den Nährboden für Gräueltaten, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart. Worte, die darauf folgen, seien der Dünger und letzten Endes auch der Auslöser für Taten, wie die der Nationalsozialisten, was wieder beweist, wie wichtig Sprachsensibilität für den Umgang miteinander ist. Geschickt baut Dahlen an dieser Stelle eines der wohl bekanntesten Zitate, zeitgleich Leitspruch der Epoche der Aufklärung, Immanuel Kants ein: „Sapere aude!“, zu Deutsch, „Wage es, weise zu sein“. Bilde dir deine eigene Meinung, hinterfrage Dinge, sei mündig. Nach dieser eindrücklichen Einleitung tritt „Mietek“ in die Mitte des Bürgerhauses. Bühne und Mikrofon benötigt der 84-Jährige, in der Nähe von Danzig geborene, „Mietek“ nicht.
Eindrucksvoll berichtet der Holocaust-Überlebende von seiner frühen Kindheit, der Festnahme der Familie, weil „Vati“, wie er seinen Vater liebevoll bezeichnet, und Opa sich weigerten, Deutsche zu werden und für Hitler zu kämpfen. Per Kutsche, Zug und zu Fuß ging es für den damals vierjährigen Mietek und seine Familie nach Potulitz. Ein grausamer Weg, eingepfercht in Viehtransportern, getrieben von Peitschenschlägen.
15 Quadratmeter – Leben mit Ungeziefer, Hunger und Krankheit
Während Vater und Großvater andernorts für den Arbeitsdienst eingezogen werden, verbleiben Mietek, seine Geschwister und seine Mutter in Potulitz. 15 Quadratmeter, ein Fenster, Gitter, Stockbetten, so beschreibt „Mietek“ die Zelle der Familie. Hygiene – nicht existent. Schnell machen sich Wanzen und Läuse breit, in der Kohlsuppe schwimmen Würmer. Die Mutter arbeitet zwölf Stunden am Tag in der Schneiderei, während „Mietek“ von Jungen der Hitlerjugend im Wald gejagt wird. Ein grausames Leben jenseits von Menschenrechten. Den Vater sehen sie alle drei Monate für wenige Stunden, bis eines Tages ein Telegramm kommt, das von seinem Tod berichtet. Ein herber Schlag für die Familie.
Drei Monate vor der Befreiung des Lagers kommt eine Weisung aus Berlin, Kinder dürfen von Verwandten abgeholt werden. „Mietek“ wird tatsächlich von einer Tante abgeholt. Geht man davon aus, dass es nun bergauf gehe, so täuscht man sich. Durch seine Cousinen erfährt Mietek in den Folgemonaten massive Misshandlungen. Erst als die Mutter freikommt, geht es der Familie langsam besser. Nach einem weiteren Rückschlag durch den Tod des älteren Bruders entscheidet sich „Mietek“, in die Stadt zu ziehen. Er besucht dort weiter die Schule, strengt sich an, findet einen Job in einer Werkstatt, hier lernt er auch seine Passion, die Trompete, kennen und lieben. Diese begleitet ihn auch am Abend des Vortrages.
Nach dreißig Jahren als Soldat und Musiker bei der polnischen Kriegsmarine zieht „Mietek“ mit einem Zirkus durch Deutschland. Mit 60 Jahren spricht er das erste Mal über seine Erlebnisse, heute spricht er hierüber auch vor Menschen, wofür auch das Publikum im Driedorfer Bürgerhaus sehr dankbar ist.
Von einem grausamen Start ins Leben hin zu Glück und Zufriedenheit
„Es ist nicht eure Schuld, aber es ist eure Schuld, wenn es sich wiederholt.“ „Mietek“ will das Publikum damit darauf hinweisen, dass wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich sind, dass wir aber dafür verantwortlich sind, dass sich die Gräueltaten nicht wiederholen, indem wir uns für unsere Werte und Demokratie stark machen.
In Zeiten von rechtsradikalen Morden, wie der an Walter Lübke oder den Morden von Hanau, sind unsere Werte gefährdeter denn je, sodass es einer klaren Positionierung der breiten Gesellschaft bedarf. Sich stark machen für eine freie Welt, damit #niewieder Realität bleibt.
Tanja Hartmann & Daniel Lohr
Driedorf, 24.01.24